Instagram-Seite der SZ

2022-11-07 17:09:04 By : Mr. HengTe Yu

Gegen die Corona- und gegen die Energiepolitik der Regierung: eine Demonstration Ende Oktober in Gera.

Ermittler befürchten einen "heißen Herbst" im Netz, mit noch mehr Hetze als zuvor. Der Rechtsstaat nimmt dies inzwischen sehr ernst - doch weil das Strafrecht sehr langsam ist, haben Experten nun eine andere Idee.

Je dunkler die Jahreszeit, desto mehr steigt in den Sicherheitsbehörden derzeit die Unruhe. Je kürzer die Tage werden, umso mehr erwarten Staatsanwälte, Kriminalbeamtinnen, Verfassungsschützer, dass die Hetzer aus ihren digitalen Löchern kriechen. "Die Wut in der Szene baut sich schon wieder neu auf", sagt eine Internet-Ermittlerin angesichts des aufziehenden, inzwischen schon dritten Winters der Corona-Pandemie. "Die Hetztiraden müssen immer härter werden, damit es noch richtig kickt." Je tiefer die Temperaturen sinken, desto lauter und beängstigender werde das Geheul bald wieder anschwellen, fürchten sie und ihre Kollegen, meist natürlich abends oder nachts.

Ende Oktober schickten sie deshalb schon mal vorsorglich eine große Truppe von Polizistinnen und Polizisten los, 65 Beamte, morgens um sechs Uhr klingelten sie an fünf Wohnungstüren in Berlin. Es war eine spektakuläre Demonstration der Stärke. Der Staat zeigte sich in überwältigender Überzahl. Die Ermittler durchsuchten Wohnungen von Personen im Alter zwischen 41 und 66 Jahren, die zur Telegram-Chatgruppe "!!!Maskenfrei Berlin!!!" gehörten. Schubladen wurden durchwühlt, Laptops beschlagnahmt. Der Vorwurf laut Durchsuchungsbeschluss: Volksverhetzung.

In einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Balkon wurde eine 66 Jahre alte Frau aus dem Bett geklingelt, die im Netz einen Bericht über einen Polizeieinsatz für Corona-Maßnahmen giftig kommentiert hatte mit den Worten: "Aber wir hatten doch nur unsere Befehle" ... Hat der Gassmann auch gesagt."

Eine Anspielung auf den Holocaust, die Gaskammern - so sieht es die Berliner Staatsanwaltschaft. So wie vieles, was in dieser Telegram-Gruppe mit ihren etwa 400 Mitgliedern geschrieben wurde. Ein 56-jähriger Deutscher hatte dort im Hinblick auf die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung gepostet: "Die Welt ist zu einem Mengele-KZ geworden!" Menschen, die Maske trügen, seien ein "unterwürfiges Führersklavenvolk". Spitzenpolitiker gehörten in den Gulag oder unter die Guillotine, "so langsam werde ich das Zucken nicht los, jedem "Geimpften" richtig in die Fresse zu prügeln".

Russische Propaganda, das kommt in diesem Winter hinzu, mischt sich in die schon bekannte Wut gegen "die da oben", die schon im vergangenen Winter bis hin zu Fackelmärschen vor den Privathäusern von Politikerinnen führte, bei der sächsischen Gesundheitsministerin zum Beispiel. "Ich weiß, es ist ein Wunschtraum", so hieß es in der "!!!Maskenfrei Berlin!!!"-Gruppe, "aber ich träume vom Einmarsch Putins in diesen verkommenen Drecksstaat BRD, dessen Ausradierung von der Landkarte und der ultimativen Bestrafung dieses Polit-Gesindels".

Erhalten Sie einmal wöchentlich Einblick in deutsche Alltagsmomente - beobachtet und beschrieben von Kurt Kister. Kostenlos anmelden.

Das demonstrative Signal der Ermittler, die also morgens um sechs vor Wohnungstüren aufmarschierten, war deutlich: Null Toleranz, der Rechtsstaat nimmt dieses Gerede von sofort an todernst, auch wenn das in früheren Jahren nicht immer der Fall gewesen sein mag. Überall in der Republik werden gerade die Spezialeinheiten gegen Hate-Speech aufgestockt. Bei der Polizei, bei der Staatsanwaltschaft. Die Ermittler starten Razzien, sie reden auch darüber, laut und deutlich, um möglichst viel mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen und potenzielle Täter abzuschrecken.

Es gibt da bloß einen kleinen Schönheitsfehler.

Die Telegram-Chats von "!!!Maskenfrei Berlin!!!", um die es bei der Razzia in Berlin in der vergangenen Wochen ging, waren nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung großteils schon mehr als ein Jahr alt. Es sind teils Vorwürfe aus dem Frühjahr 2021 gewesen, in den Durchsuchungsbeschlüssen waren sie alle sauber mit Datum versehen.

Es war so, wie es in Wahrheit bis heute fast immer ist: Es dauert quälend lang, bis die Polizei wirklich so weit ist, dass sie einen Fall von Online-Hetze an die Staatsanwaltschaft gibt. Es dauert dann noch mal quälend lang, bis die Staatsanwaltschaft Maßnahmen ergreift.

Ein hochrangiger Strafverfolger, der die Schwierigkeit beim Identifizieren von Account-Inhabern und auch bei der stets nötigen Abwägung mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit kennt, sagt: Bis es zu einer Razzia komme, brauche man meist mindestens ein Jahr. Und er fügt hinzu: Selbst bei besonders widerwärtigen Hassdelikten sehe das "Best-Case-Szenario" derzeit so aus: "Wenn es zur Anklage kommt, dann zwei Jahre später."

So ist die Lage. Was nützt es dann, wenn Hetze, die aktuell im "heißen Herbst" gepostet wird, wahrscheinlich erst 2024 Konsequenzen haben wird? Im Bundesland Berlin sind die Zahlen der Hassdelikte bereits nach oben geschossen. Auch in Bayern, wo gerade eine neue Hate-Speech-Beauftragte der Staatsanwaltschaft ihr Amt angetreten hat, Teresa Ott, sind es beunruhigende 41 Prozent mehr als im Vorjahr.

Nur vereinzelte "Leuchtturmverurteilungen" gebe es bislang, sagt ein Strafverfolger, spektakuläre Einzelfälle, die zum Beispiel von der hartnäckig engagierten Grünenpolitikerin Renate Künast vor Gericht gebracht werden. Hin und wieder gibt es dann Geldstrafen. "Aber in der Breite ist das zu wenig", sagt eine nordrhein-westfälische Ermittlerin. Und ein Kollege aus einem östlichen Bundesland meint: "Wenn es darum geht, das Problem gesamtgesellschaftlich in den Griff zu bekommen, dann ist das Strafrecht dafür letztlich zu träge."

Selbst in Frankfurt am Main, wo die Staatsanwaltschaft vor Jahren früh dran war mit der Schaffung einer gut ausgerüsteten "Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität", liegt die Aufklärungsquote bei Hassdelikten weiterhin nur bei 30 bis 40 Prozent, sagt der Oberstaatsanwalt Benjamin Krause. Schneller gehe es einfach nicht, wenn man die gebotene Sorgfalt für ein Strafverfahren wahre. "Für die Abschreckung wäre es natürlich gut, wenn die Reaktion des Staates auf dem Fuße folgt", sagt Krause.

Das heißt, bei aller Sorge vor einem heißen Protestwinter 2022 auch in den sozialen Netzwerken: Es steht zu befürchten, dass die Strafverfolger wieder bloß zusehen und mitschreiben werden, für Ermittlungsverfahren, die dann erst Monate oder Jahre später einem Gericht vorgelegt werden können. Und dass bis dahin im Netz kaum jemand interveniert.

Mit großem Aufwand hat der Staat seit der Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke am 2. Juni 2019 neue Ermittlungsstrukturen aufgebaut, um Hetze im Netz zu dokumentieren, zu bewerten und an die zuständige Staatsanwaltschaft zu geben. "Aber man hat dabei ganz auf das Strafrecht gesetzt", sagt ein Ermittler. Also auf die langsamste Lösung.

Dabei gäbe es bereits Ideen, wie es auch schneller gehen könnte. Eine rasche Reaktion: Dafür plädieren zum Beispiel die Aktivisten der Gesellschaft für Freiheitsrechte. "Wie wäre es, wenn man bestimmte Accounts, die beleidigen oder hetzen, einfach sperren könnte?", sagt Ulf Buermeyer, der Vorsitzende der Organisation. Die Idee ist simpel. Wenn ein Account bei Twitter, Facebook und Co. beleidigt oder droht, dann sollten Betroffene oder auch Opferschützer eine Beschwerde bei dem Netzwerk einlegen. Und dann, so die Idee, sollte der Fall automatisch in kürzester Zeit ans Landgericht gehen, wo ein Richter oder eine Richterin entscheidet, ob der angezeigte Account gesperrt wird.

"Das Landgericht in Zivilsachen ist dafür am besten ausgerüstet", sagt Buermeyer, der selbst Richter am Landgericht in Berlin war. "Wir kennen das von Pressekammern, dass sie solche Streitigkeiten um Äußerungen in der Presse erfreulich schnell bearbeiten. Da hat man in zwei, drei Tagen Klarheit."

Es läge dann an den Hetzern selbst, ob sie ihren Account wiederhaben wollen. Wenn sie auf Anfragen an ihre hinterlegte E-Mailadresse nicht antworten oder nicht irgendein Argument vorbringen, warum ihre Äußerung entgegen dem ersten Eindruck doch rechtmäßig war, dann sperrt das Landgericht eben ihren Account. Zum Beispiel für einen Monat. "Unter einem Monat ergibt wahrscheinlich keinen Sinn", sagt Buermeyer.

Dieses Konzept - bekannt unter dem Schlagwort "digitales Gewaltschutzgesetz" - hat sogar schon seinen Weg in den Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien gefunden. Auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter ist dafür. Mit der Idee verbindet sich die Hoffnung, dass Online-Hetzer ihre Reichweite verlieren. Natürlich, es gibt auch die Mini-Troll-Accounts mit drei Followern - sie würde das vielleicht wenig beeindrucken, wenn man einen ihrer Accounts sperrt. Sie legen sich einfach einen neuen Account zu. Aber die großen Einpeitscher im Netz: Sie könnte das schmerzen.

Ein "digitaler Gewaltschutz" existiert schon lange als Blaupause. Realisiert ist bislang aber nichts. Der Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun zweifelt schon lange daran, dass die deutsche Justiz mit ihren oft langsamen, nicht sehr konsequenten Ermittlungen gegen Hass und Hetze Erfolg haben wird. "Die Grundidee muss sein, dass wir die Opfer herausholen müssen aus diesem Gefühl der Ohnmacht", sagt er. Jun betreibt selbst wichtige Prozesse gegen soziale Netzwerke wie Facebook, etwa als Anwalt von Renate Künast.

Er erlebt, wie die allermeisten Fälle nach ein paar Monaten eingestellt werden. Und selbst wenn es einmal anders läuft, so sagt er, wenn also die Ermittlungen zum Erfolg führen, wenn es am Ende sogar eine Razzia gibt und die Polizei vielleicht morgens um sechs irgendwo klingelt: "Ein Urteil, das irgendwann Jahre später kommt, kommt zu spät."

Wer zu viel in der digitalen Welt lebt, entwickelt Neurosen. Ein Besuch beim Analytiker Johannes Hepp, der dem digitalen Menschen eine finstere Diagnose stellt.

Lesen Sie mehr zum Thema

In anspruchsvollen Berufsfeldern im Stellenmarkt der SZ.

Sie möchten die digitalen Produkte der SZ mit uns weiterentwickeln? Bewerben Sie sich jetzt! Jobs bei der SZ Digitale Medien